Mimis Geheimnis

Mimi

Essen ist ein Thema mit dem Mimi schon ihr ganzes Leben lang kämpft. Wenn sie nichts aß, wurde sie müde, unkonzentriert und bekam nur schwer Luft. Bekam sie zu großen Hunger, verlor sie ihren Appetit. Ihre Mutter Pia erzählt hier von den typischen Ess- und Trinkproblemen von Kindern und Jugendlichen mit angeborenem Herzfehler. Es ist Mimis Geschichte.
 
Für mich war immer klar: Der Herzfehler ist schuld! Denn schon als kleines Mädchen hat Mimi immer nur kleine Portionen gegessen. Sie überhaupt davon zu überzeugen, drei bis fünf Mal am Tag wenigstens einen Teil aufzuessen, war stets ein nervenaufreibender Kampf. Trotzdem habe ich immer wieder versucht, ihr klarzumachen, dass sie auch selbst darauf achten muss, ausreichend Nahrung zu sich zu nehmen.

Anfangs hat mir ihre Schule dabei den Rücken gestärkt: Ihre Lehrer und Betreuer machten sie notfalls immer wieder darauf aufmerksam, genügend zu essen. Als sie dann mit zwölf Jahren in der 5. Klasse war, kam sie jedoch immer früher nach Hause als ich und so war es mir kaum noch möglich, sie rechtzeitig ans Essen zu erinnern. Zu dieser Zeit war mir aber zum Glück die Schulköchin eine große Hilfe. Sie wusste, was Mimi mag und was nicht. Da Mimi keine Milch trinkt, hat sie sogar darauf geachtet, dass Mimi jeden Tag eine kalorienhaltige Trinknahrung zu sich nahm.

Mimi verliert immer mehr Gewicht

Als Mimi dann auf eine weiterführende Schule versetzt wurde, war der neue Klassenlehrer leider nicht so aufmerksam. Ihr Mittagessen bestand daher manchmal nur aus zwei Löffeln Reis oder einem Teller Dickmilch mit Rosinen. Und dass Mimi die Mittagspause statt in der Schulkantine lieber mit ihren Freunden außerhalb der Schule verbringen wollte, machte die Situation auch nicht gerade besser.

Schon bald fiel auch der Krankenschwester der Schule auf, dass Mimi immer weiter abnahm. Zusammen überlegten wir lange, wie wir sie dazu bewegen könnten, nicht nur mehr, sondern vor allem regelmäßiger zu essen. In der Theorie klang das alles auch immer sehr gut, nur leider haperte es mit der Umsetzung. Trotz kleinerer Anfangserfolge war nach kurzer Zeit stets wieder alles beim Alten. So konnte es einfach nicht weitergehen!

Um Mimis Problemen genauer auf den Grund zu gehen, haben wir uns an einen Ernährungsberater gewandt. Der zog dann noch einen Internisten hinzu. Aber trotz diverser Tests blieben Mimis Essprobleme weiterhin ein Rätsel. Um wenigstens wieder etwas Gewicht zuzulegen, bekam Mimi acht verschiedene Sorten Trinknahrung. Die hat sie auch alle brav probiert, aber bis auf eine haben die ihr so gar nicht geschmeckt. Immerhin trank sie jetzt eine Trinkmahlzeit zum Frühstück und eine abends. Die ganzen Querelen wegen Mimis Essgewohnheiten hörten damit aber noch lange nicht auf.

Eine neue Hoffnung

Als Mimi wegen ihrer Skoliose einen Orthopäden besuchte, hatte der dann plötzlich eine ganz neue Theorie: Vielleicht fehlte ihr einfach ein Wachstumshormon? Immerhin war ihr Knochengerüst sehr klein und entsprach immer noch dem eines elfjährigen Mädchens. Der Orthopäde erklärte uns, dass ein Mangel an Wachstumshormonen auch für Mimis Appetitlosigkeit verantwortlich sein könne. Also suchten wir eine Endokrinologin auf.

In dieser Zeit dachte ich oft: „Worüber machst du dir eigentlich Sorgen? Dem Kind geht es doch gut.“ Denn Mimi ging es tatsächlich gut. Sie war eigentlich immer voller Energie, glücklich und optimistisch. In ihrer Freizeit begeisterte sie sich für Gesang und Tanz und kam auch in der Schule gut mit. Trotzdem machte ich mir Sorgen, wie die Ernährungsprobleme wohl ihre Zukunft beeinflussen könnten. Würde sie vielleicht nicht genügend wachsen, wenn sie zu wenig aß?

Das Geheimnis wird gelüftet

Heute ist Mimi 17 Jahre alt – und alles hat sich geändert. Warum? Weil wir nach 16 Jahren des Zweifelns, Kämpfens, Ausprobierens und Selbstquälens endlich wissen, warum sie nicht essen wollte und nicht wuchs: Mimi hat eine chronische Darmentzündung. Vermutlich hat sie diese Erkrankung schon seit langem und kann deshalb Nahrung nicht richtig verdauen. Wenn man wie Mimi einen permanent gereizten Magen hat und Essen die Schmerzen nur noch verschlimmert, ist Appetitlosigkeit natürlich kein Wunder. So wurde ihr Wachstum gehemmt. Und ich mag gar nicht daran denken, wie sich diese Erkrankung wohl langfristig auf ihre schulischen Leistungen, ihre Konzentrationsfähigkeit und ihre Kraft ausgewirkt hätten, wenn sie nicht rechtzeitig entdeckt worden wäre.

Es war die Endokrinologin, die letztendlich das Geheimnis lüftete. Sie war die erste Ärztin, die sich ein umfassendes Bild machte und alles mit einbezog: Magen, Herz, Wirbelsäule, Mimis Pubertät usw. Statt einer oberflächlichen Vielleicht-Diagnose wollte sie alles ganz genau wissen. Und sie handelte auch dementsprechend: „Wenn wir Mimis Magenprobleme nicht richtig einordnen können, wird der Rest der Behandlung niemals funktionieren. Und ich werde nicht eher aufgeben, bis wir genau Bescheid wissen.“ Ich war zu Tränen gerührt.

Neue Wachstumschancen

Mimi wurde zurück an die gastroenterologische Abteilung überwiesen, um noch gezielter untersucht werden zu können. Dort wurde sie komplett durchgecheckt. Die Ärzte machten mit ihr einen relativ neuen Test, der zeigt, ob die Calcium-Aufnahme im Darm verringert ist. Das Testergebnis war so alarmierend, dass Mimi sofort ein Medikament bekam, das normalerweise für Patienten gedacht ist, die an einer schwerwiegenden Entzündung des Dickdarms mit Eiterung und Geschwürbildung leiden. Der Erfolg war offensichtlich: Mimi begann wieder zu wachsen.

Später bekamen wir die endgültige Diagnose: Mimi hat eine Kollagenkolitis, eine seltene chronische Entzündung des Dickdarms. Die Entzündung ist mikroskopisch klein und daher bei einer normalen Untersuchung nicht zu erkennen. Mimi bekam ein neues Medikament und ist seitdem symptomfrei. Jetzt isst sie wie ein ausgehungerter Wolf und wächst wie ein Bambus. Und das bleibt nicht ohne Folgen: Früher prognostizierte der Orthopäde noch ein Wachstum von maximal 164 cm. Jetzt liegt die Erwartung bei 170 cm!

Zornig vor Freude

Darf man sich überhaupt freuen, wenn beim eigenen Kind eine weitere chronische Erkrankung diagnostiziert wurde? Meine Antwort lautet: Ja! Ich freue mich nicht nur, ich bin sogar überglücklich darüber, statt vagen Zweifeln und Ängsten endlich eine Antwort auf all unsere Fragen zu haben. Unsere ganzen Sorgen haben sich in Luft aufgelöst. Zwar muss Mimi die Medikamente wahrscheinlich für den Rest ihres Lebens nehmen, aber dafür besteht die Chance, dass sie dauerhaft symptomfrei bleibt.

Eine Sache ärgert mich aber immer noch: All die fadenscheinigen Erklärungsversuche und die ganzen merkwürdigen Behandlungen, denen sich Mimi unterziehen musste, hätten wir uns eigentlich sparen können. Denn jahrelang wurden wir von einem Arzt zum anderen geschickt ohne dass uns einmal jemand wirklich zugehört hätte. Dabei habe ich ständig gefragt: „Könnte außer ihren Herzproblemen nicht etwas im Darm schief gelaufen sein? Vielleicht sollten Sie auch einmal ihren Darm untersuchen!“ Die Ärzte hätten besser auf mein Bauchgefühl hören sollen.

Autor: Pia (Mimis Mutter)