Die Elternkrankheit Kardiopatitis

(© Privat)

Alle Eltern von herzkranken Kindern, die ich kenne, leiden mindestens einmal in ihrem Leben an einer Krankheit, die ich „akute Kardiopatitis“ nenne. Zwar handelt es sich nicht direkt um eine Herzkrankheit, trotzdem trifft sie uns mitten ins Herz. Wir infizieren uns in dem Moment, in dem wir erfahren, dass das eigene Kind einen angeborenen Herzfehler hat.

Kardiopatitis steht natürlich in keinem medizinischen Wörterbuch. Dennoch kann eine Kardiopatitis verheerende Folgen haben. Und da sie hochgradig ansteckend ist, können auch andere in Mitleidenschaft gezogen werden. Weil Kardiopatitis nicht offiziell als Krankheit gilt, wissen Betroffene wahrscheinlich gar nicht, dass sie daran leiden – und noch weniger, wie sie damit umgehen sollen. Eltern mit Kardiopatitis wagen es nicht einmal, die Symptome zu erwähnen. Dabei sind diese sehr eindeutig: Leid, Hilflosigkeit, Schuldgefühle, Schmerz und Depressionen.

Das Schlimmste an Kardiopatitis ist die Angst vor der Zukunft. Typisch für diese Krankheit ist auch der verzweifelte Wunsch, die Zeit zurückzudrehen und sich ein Leben ohne Herzfehler auszumalen. Wir wollen aus der Realität flüchten, weil wir sie nicht wahrhaben wollen. Realitätsflucht bedeuteten in diesem Fall nicht nur, sich Gedanken hinzugeben wie „Was wäre wenn …?“; Realitätsflucht kann sich auch darin äußern, sich nicht mit dem Herzfehler auseinandersetzen zu wollen. Stattdessen glauben wir, alles sei nur ein böser Traum. Oder wir hoffen, dass bald ein Wunder geschieht und eine schmerzlose, vollständige Heilmethode für den Herzfehler unseres Kindes gefunden wird.

Fakt ist aber: Der Herzfehler unseres Kindes ist real – genauso wie unsere „Kardiopatitis“. Und was für den Herzfehler unseres Kindes gilt, trifft auch auf unsere Kardiopatitis zu: Wenn nicht rechtzeitig gehandelt wird, leidet darunter nicht nur der Betroffene selbst, sondern die ganze Familie. Doch zum Glück ist Kardiopatitis heilbar.

Die Krankheit akzeptieren

Damit es uns besser geht, sollten wir so schnell wie möglich lernen, mit der Situation umzugehen. Akzeptieren bedeutet aber nicht resignieren sondern eine positive Einstellung zu entwickeln. Nur wenn wir die Situation annehmen, werden Veränderungen und Verbesserungen möglich.

Aus diesem Grund sollten wir drei Tatsachen akzeptieren. Erstens, dass unser Kind ein Problem hat: einen Herzfehler. Zweitens, dass wir ein Problem haben: die „Kardiopatitis“. Und drittens, dass unser Kind und auch wir selbst Hilfe brauchen.

Der Herzfehler betrifft die Gesundheit unseres Kindes und es muss lernen, damit umzugehen. Bei uns Eltern geht es um etwas anders: Wir müssen unsere eigene Angst überwinden, um unserem Kind beibringen zu können, mit seinem Herzfehler zu leben. Denn nur wenn wir unsere Ängste in den Griff bekommen, können wir auch unseren Kindern beibringen, ohne Angst aufzuwachsen. Nicht das Kind ist unser Problem, sondern dass es selber ein Problem hat. Die Zukunft unseres Kindes hängt davon ab, dass wir diesen Tatsachen ins Auge sehen.

Zuerst sollten wir uns daher von der Vorstellung eines makellosen Kindes verabschieden, die wir uns in der Schwangerschaft ausgemalt haben. Wir alle durchlaufen eine Phase der Trauer um dieses „perfekte Kind“, das wir uns so sehr gewünscht haben. Doch auch Kinder mit einem Herzfehler haben das Recht, so geliebt zu werden, wie sie sind. Wenn wir sie nicht so akzeptieren und lieben, wie sie sind, werden wir ihnen auch nie vermitteln können, sich selbst zu akzeptieren und zu lieben.

Wo sind unsere Grenzen?

Wir müssen das Selbstwertgefühl unseres Kindes stärken. Jeder Gedanke daran, dass es eine Last für die Familie ist und die massiven Schuldgefühle, die solche Vorstellungen bei ihm auslösen können, müssen sofort aus der Welt geschafft werden. Umgekehrt werden seine Erfahrungen und der Kampf im Umgang mit seinem Problem, Ihr Kind ständig vor neue Herausforderungen stellen. Daran wird Ihr Kind wachsen und dabei viele Fähigkeiten entwickeln, auf die Sie unglaublich stolz sein werden.

Wenn wir akzeptieren, dass wir an Kardiopatitis leiden, lernen wir unsere Grenzen kennen. Allerdings sollten wir uns deswegen nicht gleich für Super-Eltern halten, da wir uns sonst leicht folgenden Gefahren aussetzen:

  • Die Gefahr, sich Schwächen nicht einzugestehen: Gefühle wie Schmerz, Zweifel und Angst machen uns nicht automatisch zu schlechten, schwachen oder nutzlosen Eltern. Schließlich sind wir auch nur Menschen. Wenn wir diese Gefühle akzeptieren, werden wir toleranter, verständnisvoller und geduldiger. Das kommt nicht nur uns, sondern auch unserer Familie zugute.
  • Die Überzeugung, dass sich niemand so gut um unsere Kinder kümmern kann wie wir selbst: Wenn wir anderen nicht zutrauen, ebenso fürsorglich mit unseren Kindern umzugehen, werden wir ihnen kaum das für das Leben notwendige Selbstvertrauen mit auf den Weg geben können.
  • Der Fehler, alles alleine schaffen zu wollen: Wenn wir unsere Kinder in die Obhut von anderen geben, haben wir das Gefühl, zu versagen oder sie im Stich zu lassen – weil wir keine guten Eltern sind. Normalerweise gibt es aber immer noch ein Leben jenseits des Kinderzimmers. Und die wenigsten Menschen sind ausschließlich Eltern, sondern auch Arbeitnehmer, Eheleute, Freunde, etc.. Daher sollten wir auch ohne schlechtes Gewissen eigene Wege gehen.

Manchmal ist es besser, sich einzugestehen, dass wir mit der Situation nicht fertig werden. In solchen Momenten sollten wir Hilfe suchen, die den speziellen Anforderungen unserer Familie gerecht wird. Das können Gespräche mit einem Psychologen oder Experten sein, die uns dabei helfen, mit der neuen Situation klarzukommen. Oder der Kontakt zu Verwandten und Freunden, damit wir uns nicht von der Außenwelt abschotten. Vielleicht müssen Sie sich auch eingestehen, dass Sie finanzielle Hilfe brauchen, um die Lage in den Griff zu bekommen. Was es auch sein mag, Familienmitglieder sollten offen über ihre persönlichen Bedürfnisse sprechen. Als Eltern müssen wir uns auch um uns selbst kümmern, damit wir wirklich für unsere Kinder da sein können. Wir müssen akzeptieren, dass unsere Kinder zwar sehr wichtig für uns sind, wir aber auch wichtig für sie sind. Und wenn es uns nicht gut geht, kann es auch unseren Kindern nicht gut gehen.

Wissen ist Macht

Damit wir die drei oben genannten Tatsachen akzeptieren können, sind Informationen das A und O. Sämtliche Informationen über den Herzfehler Ihres Kindes tragen dazu bei, dass Sie sich besser um Ihr Kind kümmern können. Sich zu informieren ist daher für Eltern Pflicht. Dabei geht es nicht allein um medizinisches Wissen. Auch über Konsequenzen des Herzfehlers für das soziale Umfeld, die schulische Entwicklung, das Familienleben oder den Umgang mit Freunden sollten Sie Bescheid wissen. Als Eltern müssen wir über möglichst viele Aspekte des Herzfehlers informiert sein. Nicht nur, um diese Informationen an unser Kind weiterzugeben, das während seiner Entwicklung sicherlich Fragen dazu haben wird, sondern auch, um das soziale Umfeld ausreichend informieren zu können, beispielsweise Lehrer, Familienangehörige und Freunde. Wir müssen lernen, unserem Kind beizubringen, was mit ihm geschieht. Dieser Prozess sollte sich nicht nur auf die ersten Lebensjahre des Kindes beschränken. Genau wie die Experten, die sich um unser Kind kümmern, sollten auch wir uns ständig zu diesem Thema fortbilden.

Wichtig ist, dass wir unser Kind als Menschen behandeln und nicht auf seinen Herzfehler reduzieren. Wir dürfen nicht vergessen, dass es auch über den Herzfehler hinaus viele andere körperliche, soziale und psychische Aspekte gibt, die bei der Entwicklung von Kindern eine Rolle spielen – und wir es uns nicht leisten können, diese zu übersehen. Ein Kind mit einem Herzfehler wächst schließlich in der gleichen Umwelt auf wie alle anderen Kinder auch. Wie unser Kind mit dieser Umwelt umgehen wird, hängt stark von uns ab. Entscheidend ist, welche Werte wir unserem Kind vermitteln, wie wir uns ihm und auch anderen Menschen gegenüber verhalten, mit denen wir zu tun haben. Wir sollten unsere Kinder so normal wie möglich behandeln, damit sie sich als normal wahrnehmen, auch wenn sie in manchen Dingen von der Norm abweichen. Damit unsere Kinder ein normales Leben haben, müssen wir als Eltern zuerst verstehen und akzeptieren, dass anders sein die Normalität ist.

Unser Leben in die eigenen Hände nehmen

Wir sollten die Grenzen unseres Kindes akzeptieren. Gleichzeitig sollten wir die tatsächlichen Einschränkungen im Alltag genau kennen. Nur so lassen sich riskante Situationen vermeiden, ohne unser Kind unnötig in seiner Entwicklung einzuschränken. Bei vielen leichteren Herzfehlern sind keine übermäßigen Einschränkungen notwendig. Nur Extreme sollten vermieden werden. Spielen Sie das Problem nicht herunter. Auch Leugnen oder Ignorieren des Herzfehlers ist falsch. Achten Sie gleichzeitig darauf, dass Sie den Herzfehler nicht überbetonen oder daraus eine niemals endende Tragödie machen.

Ihr Kind wird in seinem Leben verschiedene Entwicklungsphasen durchlaufen. Manche Entwicklungssprünge finden statt, wenn Ihr Kind gesundheitlich gerade stabil ist. Dann vergessen wir schnell den Herzfehler. Bei anderen Gelegenheiten – zum Beispiel wenn eine Kontrolluntersuchung oder eine Operation ansteht – steigt die Anspannung wieder und wir erleiden eventuell einen Rückfall in unsere Kardiopatitis. Aber trotz einer solchen emotionalen Achterbahnfahrt dürfen wir nicht zulassen, dass die Kardiopatitis unser Leben beherrscht. Wir müssen uns auf sie vorbereiten und alle Hilfe annehmen, die es braucht, um sie zu überwinden.

Nicht in Watte packen

Nur wenn wir die Kontrolle über unser Leben behalten, werden wir nicht von Angst beherrscht. Das schützt uns auch vor einer der Hauptgefahren für Eltern herzkranker Kinder: das Kind übermäßig beschützen zu wollen. Wir sollten der Versuchung widerstehen, unser Kind in Watte zu packen und es von allen Risiken des Alltags abzuschotten. Wir sollten uns zwar um Sicherheit bemühen, jedoch in einem angemessenen Umfang. Als Eltern sollten Sie die Unabhängigkeit Ihres Kindes innerhalb seiner Möglichkeiten fördern. Unterschätzen Sie Ihr Kind nicht. Drängen Sie es nicht in eine Außenseiterrolle. Fördern Sie stattdessen seine soziale Kompetenz.

Als Mütter und Väter von herzkranken Kindern müssen wir an unser Kind glauben und seine Entwicklung fördern. Glauben Sie daran, dass Ihr Kind dazu fähig ist – und auch das Recht dazu hat – ein Leben ohne Abstriche zu führen. Sie schaffen die Bedingungen für ein solches Leben. Und auch wenn die ständige Suche nach der richtigen Balance aller betroffenen Bereiche nicht immer leicht ist, wird sie Ihr Leben und das Ihres Kindes dennoch bereichern.

Wir wünschen Ihnen dafür alles Gute!

Zu den Reaktionen von Eltern, die vom Herzfehler ihres Kindes erfahren, gibt es außerdem ein Interview mit der Psychologin Elisabeth Utens.

Letzte Aktualisierung: 2009-02-06

Kommentare zu diesem Artikel

22.10.2009 | Sissy Carlin, Perú
I have a daugther, her name is Fatima Valentina, she is 8 months. When she was born she was diagnosed with Truncus Arterius I, also she is bilateral cleft lip and palate. I did know anything before she was born, it was really a big surprise... Imagine, I felt very anger with myself, I felt guilty, perhaps I did anything wrong... But, don't, I did'nt anything wrong, just something happened, somthing I wasn't prepare to. My chindren Joaquín (8) and Lucas (5) are healthy, I never, thanks God, have problems with them.
But, when was 28 days, she was operated, now her heart is very good. But it was a surgery of 8 hours, the most longer hours of my life, and she with just 4 pounds of weight, 17 inches, she was very little said the surgeons, but she hasn't more time, she could die.
She was 20 days in ICU, with the danger of infections and others things. When I saw her after the surgery I just want to cry, I just want to run from the hospital, my baby was full of tubes in her little and fragile body... I thougth I couldn't stand that pain... It was bigger than me... But she is a champion, a very strong girl, the doctors, my angels, take care of her all the time. She spent 2 months in the hospital, her brothers were very excited to know her, they didn't see before.
Now she is 8 month, is a beautiful girl, is growing very good, her heart is working great, life is different now. I full of hope, I know God exist and that He loves us. In a month she will be operated about her cleft lip.
21.03.2011 | Jaime Jenett, U.S.A.
I just wrote a blog post that touches on this:
http://simonlev.blogspot.com/2011/03/neon-spandex.html

It's so hard to figure out how to live in the moment and live with the reality that things could get very bad, very quickly, with little to no warning. Thanks for a great article.