Im Schatten der Herzkinder

Anne A Berglund (© Vegard Løvås/FFHB)

Wie fühlt es sich eigentlich an, mit einem chronisch kranken Bruder oder mit einer gesundheitlich beeinträchtigten Schwester aufzuwachsen? Wie behaupten sich Geschwister von herzkranken Kindern innerhalb der Familie, in ihrem unmittelbaren Umfeld und bei ihren Freunden? Wie helfen sich die Geschwister untereinander? Haben sie mehr Aufgaben zu bewältigen und Verantwortung zu tragen als Geschwister von gesunden Kindern?

Wir haben über diese Fragen mit Anne A. Berglund gesprochen. Die Leiterin für klinische Krankenpflege der Universitätsklinik Oslo in Norwegen ist ausgebildete Expertin für die Versorgung herzkranker Kinder.

Gefühl von Verlorenheit

“Wenn ein Kind sehr krank ist, wirkt sich dies auf die ganze Familie aus, auf die Eltern, Geschwister und auf das betroffene Kind selbst – wenn es alt genug ist, um die Situation zu begreifen”, erklärt Berglund.

"Während der akuten Phasen, in denen das kranke Kind sehr viel Aufmerksamkeit benötigt, ist die Gefahr groß, dass sich die gesunden Geschwister vergessen fühlen. In solch chaotischen Zeiten, in denen es manchmal um Leben und Tod geht, werden die Geschwister oft bei Großeltern oder anderen Angehörigen untergebracht, während Mutter und Vater zwischen Krankenhaus und Zuhause hin und her pendeln“, so Berglund. „Ändern lässt sich an dieser Situation nicht viel. Dennoch sollten die Eltern immer daran denken, dass die gesunden Geschwister ebenfalls die Nähe zu ihnen und dem kranken Kind brauchen.“

Geschwister teilhaben lassen

Die Erfahrung zeigt, dass Geschwister mit einbezogen werden sollten, z. B. bei Krankenhausbesuchen, wenn ihr Bruder oder ihre Schwester Medikamente bekommt oder über eine Sonde ernährt wird. Expertin Berglund rät: „Geschwister sollten altersgerechte Informationen bekommen. So können sie verstehen, was gerade passiert. Das vermittelt ihnen Sicherheit und das Gefühl, ebenfalls beachtet zu werden.“

Selbst krank werden

Das Hauptaugenmerk der Eltern richtet sich gezwungenermaßen oft und meist auch über lange Zeiträume hinweg auf das kranke Kind. Geschwister können sich deshalb schnell vernachlässigt fühlen. Oft wird das Familienleben über Nacht komplett auf den Kopf gestellt. Zurück bleiben Ängste bei den gesunden Geschwistern: Wird mein kleiner Bruder überleben? Warum ist Mama nie zuhause?

„Das Alltagsleben ist überschattet von unbeantworteten Fragen und großen Unsicherheiten“, erklärt Berglund. Immer wieder gäbe es Zeiten, in denen Eltern nur wenig Zeit und Energie für die gesunden Kinder der Familie aufbringen können: „Wir haben erlebt, dass im Extremfall die Geschwister selbst krank wurden, um endlich ihren Anteil an Aufmerksamkeit zu bekommen. Sowohl Eltern als auch Krankenhauspersonal sollten sich dieses Phänomens bewusst sein. Offenheit und Gespräche sind dringend notwendig.“

An Herausforderungen wachsen

Dennoch gibt es im Leben von Geschwistern herzkranker Kindes auch viele positive Aspekte. „Viele Kinder entwickeln viel mehr Verständnis und Einfühlungsvermögen als Gleichaltrige. Darauf sollten Eltern ihr Augenmerk richten, ebenfalls auf die Herausforderungen, an denen sie in ihrem Alltag wachsen“, empfiehlt Berglund. „Die meisten Eltern chronisch kranker Kindern kommen mit der Betreuung ihres Kindes und der familiären Situation bewundernswert zurecht“, weiß sie. „Sie schaffen es, mit der Erkrankung angemessen umzugehen und dem Kind den nötigen Schutz und Sicherheit zu bieten, ohne dabei zu ängstlich zu werden. Dadurch können sich das Kind und seine Geschwister gesund entwickeln.“

Autor(en): Unni Grevstad
Letzte Aktualisierung: 2009-02-09